MFG - Zerrissene Herzen
Zerrissene Herzen


MFG - Das Magazin
St. Pöltens gute Seite

Zerrissene Herzen

Text Sascha Harold
Ausgabe 09/2016

In St. Pölten wächst inzwischen die dritte Generation von Menschen mit türkischem Background heran. Mit der Türkei verbinden sie häufig nur noch die Erinnerungen der Eltern, dennoch verlieren Fragen nach Identität und Herkunft nicht an Bedeutung. Die Demonstrationen sowohl für als auch gegen Erdogan, die in Wien regen Zulauf fanden, sind ein Beleg dafür. In einer Spurensuche nähert sich das MFG der St. Pöltner Community an und fragt nach Bezugspunkten und Konfliktlinien in der Stadt.

Ali Firat ist Gemeinderat in St. Pölten und der einzige politische Vertreter der Stadt mit Wurzeln in der Türkei. Seine Großeltern kamen aus einem Kurdengebiet im Osten des Landes und gehörten zur ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter, die über ein Abkommen zwischen der Türkei und Österreich ins Land kamen. Wie der Name suggeriert, wurden diese Übereinkünfte als vorübergehende Maßnahme betrachtet, entsprechend wenig standen damals Fragen der Integration auf dem Tapet. Das ist inzwischen über sechzig Jahre her, die Bindung vieler Junger zur Türkei besteht allerdings weiterhin – auch wenn die dritte Generation überwiegend österreichische Staatsbürger sind. Firat ist als Politiker zugleich das Sprachrohr vieler Migranten, was v.a. eine Zahl belegt: 923. So viele Vorzugsstimmen erhielt er bei den letzten Wahlen und wurde damit innerhalb der SPÖ nur von Bürgermeister Matthias Stadler geschlagen – sämtliche Oppositionspolitiker ließ er hinter sich. Die jüngsten politischen Ereignisse in der Türkei bewegen auch ihn. Probleme, etwa in Bezug auf den Kurdenkonflikt, ortet er in St. Pölten aber nicht. „Türken und Kurden treffen sich etwa bei Hochzeiten, aus meiner Sicht passt das Miteinander“, ist Firat überzeugt. Auch nach dem Putschversuch in der Türkei seien ihm vermehrte Konflikte im Zuge seiner Tätigkeit als Gemeinderat nicht aufgefallen, jedenfalls aber werde die türkische Politik auch in Österreich diskutiert.
Der lange Arm des Präsidenten
Ins öffentliche Bewusstsein rückte dies bereits im letzten Wahlkampf, als der türkische Präsident auch in Österreich und Deutschland um die Stimmen von Auslandstürken warb. Er mobilisierte dabei mehr Menschen als mancher heimische Politiker. Auf unserem Streifzug durch die St. Pöltner Community geben sich beim Stichwort Politik viele zurückhaltend. Gülsen Özedemir ist alevitische Kurdin und betreibt ein Restaurant in der Herzogenburgerstraße und meint etwa, dass Meinungsverschiedenheiten schon diskutiert würden, man aber insgesamt aufpassen müsse, was man sagt. Für die Demonstrationen der vergangenen Wochen bringt sie kein Verständnis auf: „Ich weiß nicht was das Ziel von den Leuten ist. Eine Demo in Österreich schadet mehr als sie bringt.“ Unverständnis zeigt sie auch für die Macht Erdogans, die scheinbar bis nach Europa reicht. „Viele sind für ihn – auch in Österreich. Politiker sind zu 90 Prozent schuld an den Konflikten, ich wünsche mir einfach Frieden, auch Kurden und Türken in der Türkei wollen Frieden.“ Zugehörig fühle sie sich beiden Ländern, während sie Österreich als Heimatland bezeichnet, sind für die Verbindung zur Türkei v.a. familiäre Bindungen ausschlaggebend. Zum Abschluss gibt sie uns noch ihren Leitspruch mit auf den Weg: „Der Mensch ist wichtig, die Religion oder Herkunft ist egal.“
Gleich auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Lebensmittelgeschäft, das von sunnitischen Kurden geführt wird. Cihat Bilgic, der stellvertretende Geschäftsführer des Familienunternehmens, lädt uns in sein Büro ein. Sein Großvater wanderte nach Deutschland ein, mit drei Jahren kam Bilgic nach Österreich und begann nach einer Lehre im Familienbetrieb. Im Sommer reist er meist in die Türkei, wo noch ein Teil seiner Familie lebt. Ein klares Bekenntnis zu einem Heimatland fällt ihm schwer: „Mein Herz ist zerrissen. Ich bin hier Ausländer, in der Türkei aber ebenso. Ich bin genau dazwischen.“ Zurück in die Türkei zu gehen kommt für ihn nicht in Frage. „Ich kann nicht zurück, ich habe hier den Großteil meines Lebens verbracht und kann nicht alles abbauen. Viele bleiben wegen der Arbeit da“, ist Bilgic überzeugt. Zur politischen Situation und den Demos möchte er sich nicht äußern, Probleme nimmt er so nicht wahr: „Ich bin sunnitischer Kurde, habe keine Probleme mit Türken oder anderen Religionen, gehe auch ins alevitische Kulturzentrum oder in Kirchen.“

Kurdenkonflikt

Generell fällt in St. Pölten auf, dass viele Restaurants kurdische Besitzer haben, in der Stadt lebt eine vergleichsweise große Community, die großteils entweder dem Alevitentum oder dem sunnitischen Islam zugehörig ist, auch wenn die Religion im Alltag oft keine vordergründige Rolle spielt. Dass politische Ereignisse in der Türkei auch in Niederösterreich Widerhall finden, erklärt der Co-Vorsitzende des Kurdischen Vereins in St. Pölten Ali Ekber Firat. Mit etwa 300 Mitgliedern steht er für die Interessen der kurdischen Bevölkerung ein und ist v.a. in der Kulturarbeit aktiv. „Unser Hauptanliegen ist es, unsere kurdische Kultur zu verteidigen und die türkische Assimilation rückgängig zu machen!“ Dabei sei man notwendigerweise stark an die politischen Geschehnisse in der Türkei gebunden. Um das zu verstehen, muss man sich die Entstehung des türkischen Staates vor Augen führen. Religion wurde unter Atatürk, der nach wie vor hohes Ansehen in Teilen der türkischen Bevölkerung genießt, nach westlichem Vorbild weitgehend aus der Politik zurückgedrängt. Während das religiösen Minderheiten zum Teil größeren Spielraum ermöglichte, fand zugleich eine radikale Nationalisierung der Türkei statt, die ethnische Unterschiede innerhalb der Bevölkerung negierte. Im Bezug auf die kurdische Bevölkerung fand diese Politik einen ihrer Höhepunkte im Massaker von Dersim, das über zehntausend Kurden das Leben kostete. Ekber Firat beschreibt die zentralen kurdischen Werte als im Einklang mit den Menschenrechten, Frauenrechten und der Demokratie stehend. Den Gegensatz mit der Türkei sieht er auch in Österreich weiterbestehen: „Der innere Hass ist groß, aber derzeit kommt er nicht auf die Straße. Es kann aber sehr schnell auch zum Konflikt kommen“, ist er überzeugt und weiter: „Es gibt ganz wenige Türken in Österreich, die parteilos sind, die meisten sind entweder nationalistisch oder extrem religiös, es gibt eine sehr starke Vermischung der beiden Extreme.“ Ob eine solche Sichtweise zur Lösung vorhandener Konflikte beiträgt, ist fraglich, zumal sich die Ressentiments in den Gesprächen mit anderen Kurden nicht derart stark zeigten. Auf der Gegenseite sorgt außerdem die PKK mit Anschlägen auf militärische wie zivile Ziele in der Türkei für eine weitere Eskalation der Situation. In Wien zeigte sich anhand Übergriffen türkischer Demonstranten auf ein kurdisches Lokal im August eine Facette dieser Gewaltspirale.
Im Osman Pasa Kulturverein sind derartige Spannungen kein Thema. „Politik hat bei uns nichts verloren“, teilt der Obmann Esref Cacmac gleich zu Beginn mit. Seit 16 Jahren besteht der Verein, der neben einer Moschee auch kulturelle und sportliche Angebote macht und verschiedene Hilfseinsätze unterstützt. 90 bis 95 Prozent der Mitglieder haben türkische Wurzeln, sunnitische Kurden und Türken beten in der Moschee aber ohne Probleme Seite an Seite. Auch der Einfluss türkischer Politik findet zumindest auf die Vereinsfunktionäre nicht statt. „Ich kann Menschen nicht verbieten auf Demonstrationen zu fahren, kann aber sagen, dass direkt aus dem Verein niemand dabei unterstützt worden ist!“

In Dialog treten

Stadtrat Dietmar Fenz, der für die Stadt in Integrationsangelegenheiten aktiv ist, sieht die Situation ähnlich entspannt: „Der Austausch mit den türkischen Vereinen ist gut, ich selbst habe auch Kontakte zu Einzelpersonen, da gibt es keine Probleme.“ Obwohl es in St. Pölten keine Demonstrationen mit Bezug zur türkischen Politik gegeben hat, sind auch aus der Landeshauptstadt vor allem Junge zu den Wiener Kundgebungen gereist, die Identifikation mit der Türkei scheint also nach wie vor groß zu sein. Gefragt nach den Gründen zeigt sich Fenz ratlos und vermutet Vereine mit direktem Kontakt zur Türkei als entscheidend. „Anders kann ich mir das nicht erklären, dass da jemand extra nach Wien fährt. Bei uns in St. Pölten haben wir das aber gar nicht, dass einzelne Vereine Stimmung machen.“
Ob es an integrationspolitischen Versäumnissen der Vergangenheit liegt, dass die Identifikation mit einem Land, das viele nur noch aus Erzählungen kennen, derart stark ist? Für Ugur Calcan, Eigentümer eines Lokals beim Hauptbahnhof, ist es jedenfalls ein Teil des Problems: „Keiner kümmert sich um die Jungen! Die Eltern sparen auf ein Haus in der Türkei und die Kinder werden allein gelassen.“ Er selbst hat seine Wurzeln in der Osttürkei, ist in Istanbul aufgewachsen und erst mit 16 Jahren nach Österreich gekommen. Dennoch fühlt er sich hier zuhause. „Ich war nach 30 Jahren zum ersten Mal in Ersingan und habe meine Oma besucht. Dieses Jahr habe ich das Gefühl gehabt, dass ich dort nicht mehr hingehöre. Der Moment, als ich über die österreichische Grenze zurückgekommen bin, war ein schönes Gefühl“, erzählt er. Außer der Sprache und einzelnen Familienmitgliedern verbindet ihn nichts mehr mit der Türkei. Auch die türkische Kultur in Österreich sei bereits anders als jene in der Türkei. „Die jungen Demonstranten haben keine Ahnung von der Türkei. Die dritte Generation, die jetzt aufwächst, ist eine andere Volksgruppe“, meint er. Als Beispiel erzählt er von Jugendlichen, die erst mit der Türkei-Fahne zu einem Fußballspiel fahren und am nächsten Tag auf einer Pro-Kurdistan Demonstration marschieren. Bei den Vereinen, die die türkische Szene stark prägen, bestehe außerdem zu wenig Kontrolle. Für St. Pölten gilt das nur eingeschränkt, weil alle Vereine bekannt sind, aber in größeren Städten könnten kleinere Vereine Probleme bereiten. Den Konflikt zwischen Türken und Kurden sieht er dagegen weniger dramatisch. „Im Internet liest man von den Konflikten, aber auf der Straße gibt es eigentlich keine Probleme. Es sind ja alle gemeinsam aufgewachsen in der Herzogenburgerstraße oder am Mühlweg. Da ist egal, ob du Kurde oder Türke oder Alevit bist.“

Putsch und folgen
In der Nacht des 15. Juli erschütterte ein Militärputsch die türkische Republik. Er forderte zahlreiche Leben auch von Zivilisten und scheiterte u. a. auch am Widerstand der Menschen auf der Straße. Der Putsch ist nur der Höhepunkt einer ganzen Reihe innenpolitischer Konfliktherde. Neben der wieder virulent gewordenen Auseinandersetzung mit der Kurdischen Arbeiterpartei, der PKK, sorgten auch Anschläge des Islamischen Staates für Unruhe im Land. Die Türkei reagiert vor allem mit militärischen Gegenschlägen, zuletzt kam mit der Bekämpfung syrischer Kurden eine neue Front hinzu. International geriet der türkische Präsident nach dem Militärputsch wegen einer beispiellosen Verhaftungswelle in Kritik, die auch vor Anwälten, Richtern und Journalisten nicht Halt macht.
Vereine
In Österreich und Deutschland entstanden in den Jahrzehnten nach den ersten Gastarbeiteranwerbungen zahlreiche türkische Vereine, die sowohl religiöse wie kulturelle Zwecke verfolgten und für die Aufnahmeländer und Gemeinden zudem als Ansprechpartner dienten. In St. Pölten bestehen derzeit vier größere Vereine mit Bezug zur Türkei. Der Osman Pasa Kulturverein und der Islamische Kulturverein Mevlan, die beide auch eine Moschee betreiben, außerdem die Föderation Alevitischer Gemeinden in St. Pölten und ein Kurdischer Verein, der seit 2005 besteht.